Heute vor genau 50 Jahren, am 4. August 1972, ist in Science der Artikel „More Is Different“ von Philip Anderson erschienen. Unter dem Untertitel „Broken symmetry and the nature of the hierarchial structure of science“ legt Anderson darin die Grundlagen einer für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Weltsicht dar. Und nachdem dieser Artikel (nicht ganz zufällig) auch namengebend für diese Seite ist, dachte ich mir, dass das doch eine gute Gelegenheit wäre, euch diesen Höhepunkt der Wissenschaftsgeschichte vorzustellen.
Reduktionismus – eine (zu) weit verbreitete Auffassung über die Welt
Der Ausgangspunkt für Andersons Artikel ist eine Beschreibung des Reduktionismus. Diese Vorstellung besagt, dass es für eine vollständige Beschreibung der Welt ausreichend wäre, alles auf die kleinsten Teilchen und die Gesetze, die sie beschreiben, zu reduzieren. Radikal weitergedacht wären die einzigen Wissenschaftler*innen, die etwas wirklich Fundamentales betrachten, Teilchenphysikerinnen, Astronomen, Philosophen, Mathematikerinnen und ein ganz paar mehr. Alle anderen Wissenschaften wären eine mehr oder weniger triviale Folgerung aus diesen „Fundamentaldisziplinen“.
Nachdem ich nunmal ein Festkörperphysiker im weiteren Sinne bin, der dennoch behaupten würde, sich mit fundamentalen Fragen der Welt zu befassen, widerspreche ich dieser Aussage offensichtlich. Genauso, wie vermutlich viele Chemikerinnen, Soziologen, Biologen und viele andere Forschende.
Einen Teil dieses Einspruchs begründe zumindest ich mit Phil Anderson – nicht ganz zufällig immerhin einer der bedeutendsten Festkörperphysiker des 20. Jahrhunderts. Wie er lehne ich nicht den Reduktionismus an sich ab – ein Modell mit wenigen Bauteilen ist leichter zu studieren als eins mit unzähligen Details. Aber die Folgerung, dass nur auf der maximal reduzierten Ebene fundamentale Erkenntnis gelingen kann, halte ich für sehr verkehrt.
Es gibt doch so viel mehr..!
Versteht mich nicht falsch – ich finde die Erkenntnisse, die in den letzten 100 Jahren im Bereich mikroskopischer Teilchen gewonnen wurden, absolut faszinierend, spannend und definitiv wert erforscht zu werden. Ob zu den Kosten, die momentan dafür aufgewendet werden, ist eine andere Frage.
Aber ich bin eben auch überzeugt, dass durch das Zusammenspiel vieler Teilchen noch viel mehr spannende Dinge entstehen können. Und dass gerade dieses Zusammenspiel und der Prozess, wie daraus Neues hervorgeht, genauso fundamental ist, wie die mikroskopischen Teilchen und Gesetze selbst. Diese Komplexität in Vielteilchensystemen ist genau deshalb auch ein Teil meiner Forschung.
Ein Teil dieses Prozesses, wie aus einem Haufen mikroskopischer Teilchen plötzlich etwas größeres Neues wird, ist mit sogenannter Symmetriebrechung verbunden. Die mikroskopischen Grundgleichungen der Physik haben zum Beispiel eine Symmetrie, bei der es unerheblich ist, ob ein Teilchen verschoben wird. Trotzdem kann es passieren, dass ein tatsächlich existierendes System diese Symmetrie nicht mehr besitzt – jeder Kristall hat genau diese Eigenschaft.
Dieses Bild ist natürlich sehr vereinfacht, aber der Mechanismus der Symmetriebrechung ist sehr real und eines der besten Beispiele dafür, wie viele Teilchen sich eben grundsätzlich anders verhalten können als eines oder wenige.
Eine Falle für uns Physiker
Am Ende des grandiosen Artikels zieht Anderson Parallelen zu anderen Wissenschaften. Ich maße mir nicht an, die Richtigkeit oder Relevanz dieser Parallelen zu bewerten. Aber ich denke, man läuft insbesondere als Physiker leicht Gefahr, dabei in eine Falle zu laufen. Während unsere Systeme doch recht nah bei den mikroskopischen Bildern des Reduktionismus bleiben, bewegen sich andere Wissenschaften unfassbar weit davon weg.
Es ist vermutlich richtig an zu nehmen, dass Soziologie nicht einfach nur (sehr) angewandte Teilchenphysik ist. Ob allerdings die spezifischen Vorstellungen, die wir Physiker davon haben, wie aus wenigen Teilchen und einfachen Naturgesetzen neue Quasiteilchen und effektive Gesetze „emergieren“, dort anwendbar sind, wage ich doch sehr zu bezweifeln.
Nichtsdestotrotz ist die Vorstellung „more is different“ sicherlich im Allgemeinen ausgesprochen hilfreich: Nur weil ich weiß, wie sich einige wenige Objekte verhalten, verstehe ich noch nicht die Welt. Und trotzdem ist es wichtig, die Welt des Mikroskopischen zu verstehen und herauszufinden, WIE daraus die Komplexität um uns herum entsteht. Und da gibt es noch viel zu entdecken!
Literaturhinweis: Wer mehr über Phil Anderson und sein Leben erfahren möchte, dem kann ich das Buch „A Mind Over Matter“ von Andrew Zangwill sehr empfehlen. Neben der Biographie eines der wichtigsten theoretischen Physiker des letzten Jahrhunderts bekommt man eine Übersicht über die Forschungslandschaft (insbesondere der USA) und die (wissenschafts-)politischen Umstände in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboten. Sehr, sehr lesenswert, nicht nur für Festkörperphysiker*innen!